Warum Gewaltfreie Kommunikation mehr ist als nur ein Werkzeug
Meine erste Begegnung mit der Gewaltfreien Kommunikation (GfK) hatte ich in einer buddhistischen Meditationsgruppe: Eine Teilnehmerin erklärte einer anderen gegenüber, wie klimaschädlich ihre Erdbeeren seien und wie unmöglich sie es fände, dass sie uns diese im September serviere. Die angesprochene Person reagierte ruhig und verzichtete auf Rechtfertigungen, obwohl sich später herausstellte, dass sie die Erdbeeren nicht einmal selbst mitgebracht hatte. Wie leicht wäre es gewesen, einfach zu sagen, dass das nicht ihre Erdbeeren waren. Aber sie hörte sich die Urteile ruhig an und reagierte mitfühlend, fast schon neugierig. Als ich sie später darauf ansprach, erzählte sie mir von der GfK, die sie seit Jahren praktizierte. Mein Interesse war geweckt.
Bei meinem ersten GfK-Seminar als Teilnehmerin hat am meisten begeistert, dass wir Menschen alle dieselben grundlegenden Bedürfnisse teilen. Diese universellen Bedürfnisse, wie Freiheit, Gemeinschaft oder Sicherheit, sind tief in uns verwurzelt und verbinden uns auf einer fundamentalen Ebene miteinander – unabhängig davon, woher wir kommen oder wie unterschiedlich unsere Strategien zur Erfüllung dieser Bedürfnisse auch sind. Jedes Bedürfnis hat denselben Wert, und wir alle haben das gleiche Recht, Wege zu finden, es zu erfüllen.
Doch zu Beginn hatte ich Schwierigkeiten mit der neuen Sprache und lernte erst später, dass die innere Haltung viel entscheidender ist als die „richtige“ Wortwahl. Je tiefer ich in das Thema eintauchte und je mehr Seminare ich besuchte, desto mehr erkannte ich, dass es in der GfK um viel mehr geht als nur um eine Kommunikationsmethode. Sie ist tief verwoben mit Marshall B. Rosenbergs Versuch, das Konzept der Liebe zu erfassen.
Liebe als Grundlage der Gewaltfreien Kommunikation
Marshall B. Rosenberg beschreibt es folgendermaßen:
„Es ist ein Geschenk, wenn Sie sich in einem beliebigen Augenblick öffnen und ehrlich zeigen, und das zu keinem anderen Zweck als zu offenbaren, was in Ihnen lebendig ist. Nicht zu beschuldigen, zu kritisieren oder zu bestrafen. Nur: ‚Hier bin ich, und das ist, was ich möchte.’ Damit zeige ich in diesem Moment meine ganze Verwundbarkeit. Für mich ist das ein Weg, Liebe auszudrücken. Der andere Weg, etwas von uns zu geben, zeigt sich dadurch, wie wir die Mitteilung einer anderen Person aufnehmen, einfühlsam wahrnehmen, uns mit dem verbinden, was in der anderen Person lebendig ist, ohne Urteile zu fällen. Auf diese Weise ist Gewaltfreie Kommunikation nichts anderes als der Ausdruck dessen, was ich unter Liebe verstehe.“
So geht es mir auch: Wenn ich mir selbst oder anderen Menschen mit einer liebevollen Haltung zuhöre und mich aus ganzem Herzen auf ihre Bedürfnisse und Gefühle einlasse, entsteht eine tiefe Verbindung, die ich vor der Praxis der GfK so nie erlebt habe. Diese Energie, die dann entsteht, lässt sich kaum in Worte fassen – für mich zeigt sich dann unsere göttliche Kraft und das pulsierende Leben. Marshall nutzt dafür in Anlehnung an östliche Religionen gerne den Begriff „geliebte göttliche Energie“.
Wie mir die GfK hilft, in die Verbindung zu kommen
Es gibt bestimmte Satzbauten und Formulierungen in der GfK, die uns helfen, leichter in den Kontakt zu kommen und eine solche Verbindung zu erschaffen. Doch diese sind nur vorübergehende Hilfsmittel, die den Übergang erleichtern. Marshall B. Rosenberg veranschaulicht dies durch eine buddhistische Parabel: Die GfK ist wie ein Floß, das uns hilft, einen Fluss zu überqueren, um zu einem wunderschönen, heiligen Ort zu gelangen. Doch sobald wir den Fluss überquert haben, können wir das Floß loslassen.
Marshall B. Rosenberg ermutigt uns also dazu, nicht mechanisch und zwanghaft an der Methode festzuhalten. Die GfK ist ein nützliches Hilfsmittel, um mir über meine kulturelle Konditionierung hinwegzuhelfen. Aber das Ziel ist es, die Prinzipien zu verinnerlichen und das Göttliche in uns und in anderen zu erkennen. Anfangs hielt ich mich stark an die Satzmuster, doch mit der Zeit wurde mir die innere Haltung wichtiger als bestimmte Formulierungen. Heute lasse ich mich mehr von Neugier leiten und drücke mich freier und authentischer aus.
Warum ich das „Floß“ gerne noch zur Hand nehme
Immer wieder gibt es dabei auch Momente, in denen ich an meine Grenzen komme. Wenn ich emotional aufgewühlt bin, fällt es mir schwer, meine innere Haltung zu bewahren. In diesen Momenten greife ich wieder bewusst auf die Struktur der GfK zurück – sofern ich dazu noch in der Lage bin. Letztens hatte ich so ein Gespräch, bei dem all meine Alarmglocken schrillten. Ich war kurz davor zu explodieren und konnte dies nicht mehr in eigenen Worten wohlwollend vermitteln – also habe ich ganz bewusst eine GfK-Formel angewandt, auch wenn sich das für mich künstlich angehört hat: „Wenn ich höre, dass ich das leicht nehmen soll, dann bin ich wütend und fühle mich ohnmächtig, weil ich mir gerade Verständnis wünsche. Kannst du das verstehen?“ Mein Gegenüber war ganz überrascht, und es entstand ein schönes Gespräch. Ohne diese Formulierungshilfe wäre daraus schnell ein heftiger Streit geworden. Ich war froh, dass ich mein „Floß“ – die Hilfestellung der GfK – schnell wiedergefunden habe, um sicher ans Ufer der Verbindung zu gelangen. Viel zu oft wird dieses Floß in stressigen Momenten ans andere Ufer gespült und ist nicht mehr greifbar.
In solchen Situationen wird mir immer wieder deutlich, wie kraftvoll die GfK ist, wenn es darum geht, echte Verbindungen zu schaffen. Marshall B. Rosenberg bringt es auf den Punkt: „Gewaltfreie Kommunikation ist eines der wirksamsten Werkzeuge, die ich gefunden habe, mich mit Menschen auf eine Weise zu verbinden, die uns hilft, uns mit dem Göttlichen zu verbinden. Dadurch wird alles, was wir füreinander tun, aus einer göttlichen Energie gespeist. Das ist der Ort, an den ich gelangen möchte.“ Und genau darum geht es für mich in der GfK wirklich.
Zitate aus: Marshall Rosenberg (2015) „Lebendige Spiritualität” (Junfermann Verlag)