Unsere wahre Natur
Was passiert, wenn eine Gruppe von Menschen auf einer einsamen Insel strandet? Fangen sie an, sich gegenseitig an die Kehle zu gehen oder unterstützen sie einander?
Fernsehserien zufolge scheint es viel wahrscheinlicher, dass ein solches Ereignis katastrophal endet. Spätestens, wenn Wasser und Nahrungsmittel knapp werden, dürfte das Recht der Stärkeren gelten. Doch ist das wirklich so? Diese Frage untersucht Rutger Bregman in seinem Buch „Im Grunde gut– Eine neue Geschichte der Menschheit”. Zahlreiche wissenschaftliche Studien und Erfahrungsberichte hat er ausgewertet und kommt dabei zu einem überraschenden Ergebnis: Menschen sind nicht im Grunde böse – nein, sie tendieren eher dazu, sich gegenseitig zu helfen und knappe Güter gerecht zu verteilen.
Eines der zahlreichen Beispiele: In den 1960er Jahren strandeten sechs polynesische Jugendliche auf einer kleinen, kargen Insel in Tasmanien. Sie überlebten 15 Monate, bis sie zufällig gefunden wurden. Der Kapitän, der sie schließlich rettet, berichtet: „Als wir ankamen, hatten die Jungen eine kleine Kommune eingerichtet, mit einem Gemüsegarten, ausgehöhlten Baumstümpfen, um Wasser aufzufangen, einer Sportschule mit ungewöhnlichen Gewichten, einem Badmintonfeld, Hühnerställen und einer festen Feuerstelle.“ Über ein Jahr lang hielten sie ein Feuer am Leben, arbeiteten abwechselnd im Gemüsegarten, kochten und schoben Wache. Jeden Tag begannen und beendeten die Jungs mit Singen und Gebeten. Wenn es Streit gab, gaben sie einander Freiraum und nach einigen Stunden wurden die Streithähne wieder zusammengebracht, um sich zu entschuldigen.
Nach der Veröffentlichung dieser Geschichte wurde kritisiert, dass Bregman sie aus weißer Perspektive für sich vereinnahmt habe, statt die Betroffenen aus eigener Perspektive erzählen zu lassen. Es ist nur einer von vielen Berichten aus unterschiedlichen Kulturkreisen, der zeigt, dass wir in Krisen eher dazu neigen, uns gegenseitig zu unterstützen, selbst wenn wir uns damit selbst in Gefahr bringen. Dies ist besonders dann der Fall, wenn wir die gegenseitige Fürsorge in unserer Kultur und in unseren Geschichten verankern.
Schon unsere Vorfahren waren gutmütige Wesen
Diese Gutmütigkeit ist laut Bregman Kern unseres Wesens. Der Homo Sapiens war nicht nur schwächer als der zeitgleich lebende Neandertaler, er war sogar dümmer. Wieso ist dann der Neandertaler ausgestorben, der Homo Sapiens aber nicht? Wissenschaftler:innen vermuten inzwischen, dass es damit zusammenhängt, dass die Menschen freundlicher waren, sich gegenseitig unterstützt und voneinander gelernt haben. Und so hatten sie größere Überlebenschancen als der stärkere und klügere, aber egoistische Neandertaler.
Auch Unternehmen funktionieren ganz wunderbar, wenn es keine Chef:innen gibt, sondern die Macht in kleinen Gruppen liegt, die eine Vision teilen und ihre eigenen Ideen umsetzen dürfen. Denn dann erfahren die Menschen ihre Selbstwirksamkeit und erleben ihren Arbeitsplatz als sinnstiftend und erfüllend (Frederic Laloux hat dazu ein sehr lesenswertes Buch geschrieben).
Wie uns die Entfremdung in die Krise geführt hat
Aber doch passt etwas nicht zusammen: Wenn wir im Grunde gut sind, wieso quälen und töten wir Massen von Tieren? Warum gibt es Kriege? Wie kommt es, dass wir unsere Lebensgrundlagen zerstören – den Planeten so zugrunde richten, dass wir akut vom Aussterben bedroht sind?
Dies hängt laut Bregman vor allem mit den Machstrukturen zusammen, die mit der Entstehung des Ackerbaus und der Zivilisation entstanden sind, mit dem Aufkommen des Besitzes und der Verteidigung desselben. Für die Kämpfe um Grenzen und Güter wurden Anführer:innen gewählt, die immer machthungriger wurden. Und so begann eine Abwärtsspirale, die uns zu der aktuellen Krise geführt hat. Die Autorin, Buddhistin und Aktivistin Joanna Macy beschreibt diesen Prozess als Entfremdung. Wir haben uns von uns selbst entfremdet, unsere wahre Natur aus dem Blick verloren.
Dass wir uns auf dem falschen Pfad befinden, zeigt sich auch bei den vielen Menschen, die verzweifelt versuchen, die Leere im Inneren zu füllen. Es wird versucht, dieses Gefühl mit Unterhaltung, Konsum und Karriere zu betäuben, weil uns gelehrt wird, dass dies der Ausweg ist. Wir streben nach immer höheren Gipfeln, doch sobald wir angekommen sind oder innehalten, merken wir, dass uns das nicht erfüllt. Und so langsam merken wir: Dieses zerstörerische System macht uns zutiefst unglücklich.
Den Wandel leben, den wir uns wünschen
Die hoffnungsvolle Botschaft: Eigentlich ist die Lösung ganz einfach. Wir müssen nur unser wahres Selbst wiederentdecken. Auf unsere innere Stimme hören und entsprechend handeln. Uns unsere Verbindung zur Erde und zu allen Lebewesen wieder bewusst machen. Im Kern geht es darum, den Wandel zu leben, den wir uns aus tiefstem Herzen wünschen.
Ich möchte Kulturen fördern, die belastbar und robust sind und die uns bei den Veränderungen unterstützen, denen wir uns unweigerlich gemeinsam stellen müssen. Dass wir uns gegenseitig vertrauen und stärken, auf das persönliche und gemeinsame Wohlbefinden achten und ein solidarisches Miteinander fördern.
Auch wenn ich weiß, dass es noch ein weiter Weg ist, bis wir wieder zurück zu uns selbst gefunden haben: Im Grunde sind wir gut. Mir gibt das Hoffnung.