Die Klimakrise und die Fragen meiner Tochter
Manchmal hilft es, die Welt mit Kinderaugen zu sehen. Dann merken wir, dass wir nur die richtigen Fragen stellen müssen, um neue Antworten zu finden. Das gilt auch für die Klimakrise und das Artensterben.
Ich habe eine kleine Tochter. Sie ist 7 Jahre alt und sie stellt große Fragen. Warum fallen in Indien die Vögel tot vom Himmel? Warum brennen die Wälder? Warum essen die anderen Kinder Bärchenwurst, obwohl dafür Schweine getötet werden? Ich weiß darauf keine gute Antwort. Eigentlich kann ich mir selbst nicht erklären, wie wir all das Leid ertragen, das wir selbst verursachen. Wie man die Qual der Tiere in Massentierhaltung auch nur ansatzweise rechtfertigen kann. Warum wir die Schönheit der Natur zerstören, weil wir sie als Ressource betrachten, die man unendlich nutzen kann. Wie viele Wissenschaftler:innen uns noch verzweifelt darauf hinweisen müssen, dass wir durch fossile Brennstoffe die Klimakatastrophe anheizen.
Wie viele Flutkatastrophen, Hitzewellen, Todesfälle brauchen wir noch, bis wir begreifen, dass wir gerade dabei sind, alles zu zerstören, was uns lieb und teuer ist?
Was wäre das für eine Welt – ohne Pinguine, Feldhamster und Delfine?
Früher mussten wir die Insekten von der Windschutzscheibe kratzen, wenn wir länger mit dem Auto unterwegs waren. Heute müssen in der chinesischen Region Sichuan schon Menschen die Pflanzen bestäuben, weil dort durch Pestizide fast alle Insekten ausgerottet wurden.
Die Zahl der Insekten ist in den letzten Jahrzehnten um mehr als drei Viertel zurückgegangen. Weniger Insekten bedeutet nicht nur weniger Futter für Vögel, Frösche oder Fledermäuse. Es bedeutet auch weniger Essen für uns. 85 % aller Pflanzenarten sind abhängig von der Bestäubung durch Insekten – darunter Äpfel, Karotten, Brokkoli. Ohne Insekten würden jedes Jahr mehrere Millionen Menschen infolge von Mangelernährung sterben.
Gleichzeitig rauben wir uns die Luft zum atmen. Nur noch jeder fünfte Baum in Nordrhein-Westfalen ist gesund. Es erschüttert mich, dass die Wälder brennen, von Borkenkäfern zerfressen werden und die Waldböden so ausgedorrt sind, dass die Bäume verdursten. Bäume schenken uns Sauerstoff, sie spenden Schatten und sie schützen uns vor Extremwetter-Ereignissen wie Flutkatastrophen.
Der Bestand der Wirbeltiere ist in den letzten Jahrzehnten weltweit um 68 % geschrumpft. Besonders gefährdet sind Flachlandgorillas, Lederschildkröten und Störe. In Deutschland stehen der Feldhamster, der Spatz und der Schweinswal auf der Liste der stark gefährdeten Arten. Die Zahl der Ozeanbewohner ist um 40 % zurückgegangen, vor allem wegen Überfischung. Pinguine, Seelöwen und Delfine finden nicht mehr genug Nahrung und verhungern.
Pro Tag verschwinden etwa 150 Tiere und Pflanzen für immer von unserem Planeten. Wir erleben aktuell das größte Artensterben seit dem Ende der Dinosaurier. Mit jeder Art droht ein ganzes Ökosystem zu kippen.
Stündlich sinkt die Artenvielfalt und mit ihr gerät auch unsere Versorgungssicherheit mit Wasser, Nahrung und Sauerstoff in Gefahr. Der Journalist Dirk Steffens hat gesagt: „Die Klimakrise bedroht die Art und Weise, wie wir leben. Aber das Artensterben stellt in Frage, ob wir überhaupt leben.“
Ist es normal, die Natur zu zerstören und die Kosten an die Allgemeinheit abzugeben?
In den nächsten drei bis vier Jahren entscheidet sich die Zukunft der Menschheit. Meine Tochter hat recht. Große Fragen sind wichtig. Wir müssen alles infrage stellen, was für uns heute normal ist:
- Ist es normal, dass riesige Flächen des Regenwaldes gerodet werden, um Soja anzubauen?
- Ist es normal, dass Menschen Hunger leiden, während wir Soja an Rinder verfüttern?
- Ist es normal, dass wir ganze Dörfer abreißen, um immer mehr Kohle abzubauen und damit die Klimakrise weiter anzuheizen?
- Ist es normal, dass Unternehmen die Natur zerstören, Profit machen und die Kosten ihrer Zerstörung an die Allgemeinheit abgeben?
Im Kapitalismus ist das normal. Seit dem späten 18. Jahrhundert wird uns eine Geschichte, ein Märchen namens Kapitalismus erzählt. Dogmatisch wird festgehalten an einem zerstörerischen, ausbeuterischen, diskriminierenden und unterdrückenden System, in welchem das Geld der Welt in Besitz von wenigen weißen Reichen ist.
Viele Menschen wollen uns weismachen, dass wir immer so weitermachen können. Dass die Wirtschaft nunmal wachsen muss – und zwar um jeden Preis. Dass wir uns nicht ändern müssen, weil uns schon eine technische Lösung retten wird. Doch es gibt kein unendliches Wachstum auf einem endlichen Planeten. Die vorhandenen Ressourcen sind begrenzt, teilweise schon ausgeschöpft oder kurz davor.
In was für einer Welt willst du künftig leben?
Doch wir können eine andere Geschichte erzählen. Es ist die Geschichte des „Großen Wandels“, die wir z.B. bei der Aktivistin, Systemtheoretikerin und Buddhistin Joanna Macy finden. Sie geht davon aus, dass wir uns mitten in einer tiefgreifenden Revolution befinden, die unsere Gesellschaft, unsere Wirtschaft und unseren Alltag komplett umkrempeln wird.
Wenn wir die Augen öffnen, sehen wir überall Zeichen dafür, dass sich gerade ein Wertewandel vollzieht, der alles in Frage stellt. Wir sehen, dass eine andere Welt möglich ist: Die Regale sind voller veganer Produkte, wir reden über Minimalismus und Konsumkritik, Freizeit ist vielen Menschen wichtiger als Karriere, Meditation und Achtsamkeit gewinnen an Bedeutung, Unternehmen setzen auf Kreislaufwirtschaft, und auf den Straßen protestieren Millionen von Menschen für Klimagerechtigkeit.
Die Geschichte des Kapitalismus ist mächtig. Aber sie ist nur mächtig, wenn wir ihr glauben. Hört auf euer Herz und lauscht, ob es nicht eine andere Geschichte gibt, die ihr wahrmachen wollt. Und sucht euch andere Menschen, die sie mit euch teilen!
Ich weiß nicht, ob wir es schaffen, diese Geschichte wahr zu machen. Aber ich weiß, dass ich alles daran gesetzt haben will, am Großen Wandel mitgewirkt zu haben. Ich möchte dazu beitragen, dass meine Tochter in einer Welt leben kann, in der das Wohl aller Lebewesen zählt und nicht der Profit. Eine Welt, in der wir die Schönheit der Natur bestaunen, statt sie zu zerstören. In einer Gesellschaft, in der die Bürger:innen das Sagen haben und nicht Lobbyist:innen. In einer Gesellschaft, in der ich mich nicht vor den Fragen meiner Tochter fürchten muss.